Pressemeldung der Landeshauptstadt Hannover
- 01.09.2020
Betreiberwechsel in der Diamorphinambulanz Hannover
Die Diamorphinambulanz in Hannover zählte deutschlandweit zu den ersten Einrichtungen dieser Art. Unter medizinischer Aufsicht erhalten ausgewählte Heroinsüchtige zur Behandlung das synthetisch hergestellte Heroin. Diamorphin ist frei von Beimengungen anderer Stoffe und damit hygienisch und medizinisch sicher. Die Trägerschaft der Ambulanz wechselt jetzt von der Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule auf die Praxis Dr. Thomas Peschel (Patrida MVZ GmbH).
Die Landeshauptstadt Hannover möchte der Medizinischen Hochschule ausdrücklich für ihr Engagement und die Zusammenarbeit während der Projektphase und dem Betrieb in den letzten elf Jahren danken“, so Dr. Axel von der Ohe, Finanz und Ordnungsdezernent der Landeshauptstadt Hannover. „Wir sind sicher, dass Dr. Peschel mit seiner Expertise und langjährigen Erfahrung in der Diamorphinbehandlung in Hannover und Berlin die Arbeit in dieser wichtigen Anlaufstelle für drogensüchtige Menschen in Hannover erfolgreich fortführen wird. Wir begrüßen ebenfalls einen neuen Schwerpunkt der Arbeit, nämlich das Ziel wieder den direkten Kontakt zur offenen Drogenszene an der Fernroder Straße zu suchen und sie möglicherweise für eine Therapie mit Diamorphin zu motivieren“.
Neben der Konsummöglichkeit illegaler Drogen im Stellwerk gäbe es damit ein Angebot, sich durch das Diamorphin zu stabilisieren, weiterer Verelendung zu entkommen und eine Perspektive zu entwickeln. Dadurch könnte auch Abhängigen geholfen werden, die neben Heroin weitere Drogen als Beikonsum nehmen. Die Einstellung der Diamorphin-Dosis ermöglicht eine deutliche Reduzierung bzw. komplette Abstinenz anderer Drogen. Dieser Schritt wäre ein weiterer Baustein neben der aufsuchenden Arbeit, dem Konsumraum Stellwerk und dem ambulanten Angebot, um auf die offene Drogenszene zuzugehen.
Neben den bisherigen 40 Patient*innen können noch weitere Suchtkranke in der Ambulanz aufgenommen und behandelt werden.
„Hannover war in den 90er Jahren ein absoluter Brennpunkt der Drogenszene,“ unterstreicht Dr. Andrea Hanke, Dezernentin für Soziale Infrastruktur der Region Hannover. „Die Zahl der sogenannten Drogentoten lag 1992 bei 65 im Jahr. Die Antwort war die Entwicklung und der Aufbau differenzierter Angebote für Suchtkranke. Die Diamorphinambulanz, der Drogenkonsumraum und die Substitutionspraxen sind Meilensteine und Vorbilder, die mit dazu geführt haben, dass die Zahl der Drogentoten in der Region Hannover 2019 nur noch bei 8 lag und sich damit deutlich und positiv vom Bundestrend unterscheidet. Das ist ein Rückgang auf 12,3 Prozent und somit ein großer Erfolg für alle.“
Seit Beginn der ersten Diamorphinambulanzen in Deutschland 2009, kamen an den städtischen Standort nicht nur Patient*innen aus Hannover. Aus diesem Grund hatten sich Stadt und Region von 2009 bis 2014 mit einer Anschubfinanzierung gemeinsam beteiligt* (Details siehe unten).
„Gemeinsam mit der Stadt und Region Hannover war es für die Medizinische Hochschule Hannover ein zentrales Anliegen dabei mitzuwirken, die Diamorphinbehandlung bundesweit zu etablieren und die Therapie durch Forschung zu begleiten. Nunmehr ist die Vergabe von Diamorphin zur gesetzlichen Kassenleistung geworden und weitere Behandlungsansätze können durch eine niedergelassene Praxis verfolgt werden, für die eine Klinik keine Zulassung erhält. Die MHH übergibt diese Aufgaben nun und wünscht den Beteiligten alles Gute“, sagte Prof. Dr. med. Stefan Bleich, Medizinische Hochschule Hannover aus diesem Anlass.
Dr. Thomas Peschel, der in Hannover lebt, ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und war bereits als Studienarzt im Rahmen der „Heroinstudie“ *(Details siehe unten) am Aufbau der Diamorphinambulanz beteiligt. Seit 2013 führt er in Berlin die Praxis Patrida. „Ich freue mich sehr auf die neue Aufgabe hier in Hannover und stehe aus Überzeugung hinter der Therapie mit Diamorphin. Nach meiner Erfahrung werden Diamorphin-Patient*innen seltener kriminell, pflegen ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit werden positiv beeinflusst. Deshalb ist diesen Suchtkranken mit diesem Medikament besser geholfen als mit anderen Ersatzstoffen – daher bezahlen die Kassen auch diese Behandlung“, sagte Peschel im Rahmen der Veranstaltung.
Die Diamorphinbehandlung in Deutschland ist schwerstkranken Opioid Abhängigen vorbehalten, die seit mindestens fünf Jahren erkrankt, älter als 23 Jahre und die bereits 2x erfolglos behandelt worden sind (davon 1x mit einer anderen Substitutionstherapie). Also Personen, bei denen eine Methadon- oder Buprenophin-Behandlung versagt hat und die schon lange unter ihrer Suchterkrankung leiden.
Hintergrund und Entwicklung:
- 1992 brachte die Freie und Hansestadt Hamburg eine Gesetzesinitiative zur Einrichtung von Diamorphinambulanzen (heroingestützte Therapie) auf den Weg.
- Die Landeshauptstadt Hannover war seit 1994 einer der Hauptinitiatoren einer Städteinitiative bundesdeutscher Großstädte.
- 2001 wurde die Durchführung der „Heroinstudie“ auf Bundesebene beschlossen und im Dezember 2001 erfolgte ein Beschluss der Ratsversammlung der LHH, als eine der Studienorte teilzunehmen.
- 2002 Beginn der Heroinstudie in Hannover in Trägerschaft der MHH / Prof. Dr. Dr. Emrich
- 2004 Entscheidung über die Weiterführung bis 2006
- 2008 der Bund zieht sich aus der Finanzierung zurück und eröffnet gleichzeitig die Möglichkeit, durch gesetzliche Rahmenbedingungen die Diamorphinambulanzen zu betreiben.
- 2009 Eröffnung der Diamorphinambulanz in der Odeonstraße in Trägerschaft der Medizinischen Hochschule Hannover (psychosoziale Betreuung durch die Step gGmbH). Neben sechs anderen Großstädten war Hannover damit bundesweit mit eine der ersten Kommunen, die diese Versorgung anbot.
- 2009 Landeshauptstadt Hannover, Land Niedersachsen und Region Hannover sichern die Fortführung bis 2014 durch Zuwendungen(siehe Region Hannover – Beschlussdrucksache II 438/2008).
- 2014 Weiterführung durch die MHH im Rahmen einer Psychiatrischen Institutsambulanz – Leistungen werden jetzt über die Krankenversicherungen, d.h. patientenbezogen finanziert.
- Inzwischen gibt es bundesweit 11 Diamorphinambulanzen
- 2020 Übergabe der Diamorphinambulanz an die Praxis Patrida MVZ GmbH
Was ist Diamorphin?
Was ist Diamorphin? Die Substanz wird synthetisch hegestellt und ist pharmakologisch reines Heroin mit einem Wirkgehalt von 98,5 Prozent. Durch den hohen Reinheitsgehalt ist eine genaue Dosierung für die Patient*innen möglich. Im Vergleich liegt der Reinheitsgehalt beim sog. „Straßenheroin“ bei höchstens 10 Prozent. Diamorphin lindert nicht nur den Suchtdruck, sondern verursacht, im Gegensatz zu anderen Substituten wie Methadon, einen „Rausch“. Im Gegensatz zu den anderen Substituten reicht keine einmalige Gabe pro Tag; deshalb gibt es mehrere Behandlungszeiträume (2-3x täglich). In der Regel wird das Diamorphin unter Aufsicht injiziert. Laut Substitutionsregister erhielten 2019 bundesweit ein Prozent der 79.400 Substitutionspatient*innen eine Behandlung auf Basis von Diamorphin.